Kennst du das Gefühl, innerlich zerrissen zu sein? Es fühlt sich an, als würdest du in zwei entgegengesetzte Richtungen gezogen werden, oder? So, als ob zwei verschiedene Kräfte mit dir ein Tauziehen veranstalten. Ein Teil von dir sehnt sich vielleicht nach Ruhe und Ankommen. Der andere will etwas Neues erleben. Ein Teil fühlt sich verantwortlich für etwas oder jemanden und will helfen, gibt sich selbst dafür auf oder stellt sich zumindest hinten an. Der andere Teil will endlich auch gesehen werden und einfach mal zur Ruhe kommen. Dazwischen stehst du und weißt nicht, wie du mit dieser Situation umgehen sollst.
Vielleicht spürst du im Körper ein Ziehen, einen Druck in der Brust, einen Knoten im Bauch, Unruhe oder Verspannungen. Du versuchst allen gerecht zu werden und fühlst dich überfordert.
Doch was bedeutet dieses Gefühl eigentlich – dieses Zerrissensein, das so viele von uns kennen?
Was bedeutet es, sich zerrissen zu fühlen?
Diese Zerrissenheit ist ein innerer Zustand,
in dem widersprüchliche Bedürfnisse, Werte oder Erwartungen aufeinandertreffen.
In Beziehungen und in der Familie erleben wir das immer wieder. Vielleicht kennst du das, wenn du für andere da sein willst und dabei auf Widerstand stößt. Du verstehst die Welt nicht mehr, denn du wolltest doch nur helfen. Ob das deine Kinder sind, die darauf mit Ärger reagieren oder dein Partner / deine Partnerin, die dich zurückstößt, obwohl du doch ganz liebevoll deine Unterstützung anbietest. Wut steigt in dir hoch und die Situation eskaliert. Das ist schwer auszuhalten und es zerreißt dich.
Zerrissenheit ist kein Zeichen von Schwäche,
sondern ein Zeichen innerer Bewegung.
Mögliche Gründe für diese Zerrissenheit
Wenn wir uns zerrissen fühlen, liegen die Gründe dafür meistens in ungelösten inneren Konflikten, die weit zurückliegen können. Alte Loyalitäten, unausgesprochene Erwartungen oder Glaubenssätze, die wir früher brauchten, um uns sicher zu fühlen.
Vielleicht hast du gelernt, dass du geliebt wirst, wenn du bestimmte Erwartungen erfüllst. Wurdest du besonders beachtet, wenn du gute Leistungen erbracht hast? Oder wurdest du vor allem dann geliebt, wenn du lieb und nett warst und dich um andere gekümmert hast? Dann findet dein Nervensystem vielleicht Sicherheit, wenn du für andere da bist. Gleichzeitig merkst du aber auch, dass du frei sein willst, loslassen willst. Aber die Angst, nicht mehr dazuzugehören, ist so groß, dass du lieber die Kontrolle behalten willst, als das Risiko einzugehen, abgelehnt zu werden. Dabei hast du vielleicht sogar verlernt, deine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen.
Double-Bind-Botschaften
Besonders schmerzhaft sind Double-Bind-Botschaften – widersprüchliche Signale, die uns innerlich spalten. Das können Botschaften, wie die folgende sein, die wir von unseren Eltern bekommen haben:
„Bleib klein, damit ich dich lieben kann und deine bedingungslose Liebe spüre.“
„Sei stark, damit du mich versorgen kannst.“Beides gleichzeitig kannst du nicht erfüllen. Und trotzdem haben wir – fast alle – auf irgendeine Weise solche widersprüchlichen Botschaften in uns aufgenommen. Nicht, weil unsere Eltern es böse meinten. Sondern, weil auch sie Kinder ihrer Eltern waren – mit eigenen Sehnsüchten, eigenen Wunden und Grenzen.
Viele von uns tragen heute noch diese unausgesprochenen Aufträge in sich: „Sei stark, damit ich mich sicher fühlen kann.“ oder „Bleib klein, damit ich dich versorgen darf.“
Und wir versuchen unbewusst, beides zu erfüllen – um geliebt, gesehen, gehalten zu werden.Doch an einem bestimmten Punkt in unserem Leben ruft etwas Tieferes in uns. Eine Stimme, die sagt: „Es ist genug. Du darfst dich nicht länger zwischen Liebe und Freiheit entscheiden müssen.“
Das ist der Moment, in dem Heilung beginnt – wenn wir erkennen, dass wir weder klein bleiben müssen, um geliebt zu werden, noch stark sein müssen, um sicher zu sein.Du darfst beides sein: verletzlich und kraftvoll. Bedürftig und unabhängig. Empfindsam und klar.
Auch Überforderung und Perfektionismus können Zerrissenheit verstärken. Wenn zu viele Erwartungen gleichzeitig an uns ziehen, verlieren wir den Kontakt zu uns selbst. Wir versuchen, allem gerecht zu werden, uns selbst, unserer Familie, Freund*innen und Kolleg*innen. Dabei verlieren wir oft das Gefühl für das, was uns wirklich nährt und kennen unsere Bedürfnisse kaum mehr.
Zerrissenheit ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Tiefe. Sie zeigt, dass in dir zwei Kräfte wirken, die beide gesehen werden wollen. Und dass du bereit bist, dich selbst besser kennenzulernen.
Wie sich Zerrissenheit zeigen kann
Zerrissenheit kostet dich Energie. Du wirst hin- und hergerissen. Dein Körper ist im Stressmodus. Das bedeutet, dass er überall Gefahren wittert und Stresshormone ausschüttet, um dich zu schützen. Du sollst dadurch die Möglichkeit bekommen, dich zu verteidigen, die Stresssituation bestmöglich zu bewältigen und zu überleben. Auf Dauer bedeutet das jedoch, dass du dich erschöpft fühlst, körperliche Symptome entwickelst, weil unser Körper nicht auf Dauerstress ausgelegt ist. Er kann akuter Stresssituationen hervorragend meistern, benötigt aber auch immer wieder Erholungsphasen, die bei ständiger Zerrissenheit einfach nicht oder kaum vorhanden sind.
Auch emotional macht sich das bemerkbar. Oft kommen Emotionen wie Schuld, Angst und Traurigkeit, aber auch häufiger Wut und Ärger oder Hilflosigkeit durch eine ständige Überforderung und Zerrissenheit. Diese Emotionen können sich wiederum körperlich durch flache Atmung, Verspannungen o.ä. ausdrücken.
All das kann dann wiederum dazu führen, dass wir uns zurückziehen, weil wir uns nach Ruhe sehnen. Aber wenn wir allein sind, fangen wir an zu grübeln, was uns wieder in Stress versetzt. Auch die Entscheidungsfähigkeit, Konzentration und Aufmerksamkeit können dadurch leiden.
Wenn du das kennst, hast du sicherlich schon einiges ausprobiert und fragst dich, was du nun tun kannst.
Wege zur Integration
Achtsamkeit & Körperwahrnehmung: Wo spüre ich die Spannung?
Körperwahrnehmung ist ein wesentlicher Punkt, weil häufig der Kontakt zur eigenen Mitte und zu den eigenen Bedürfnissen verloren gegangen oder erschwert ist. Darum hilft es, immer wieder den eigenen Körper zu wahrzunehmen.
Wo sitzen Emotionen?
Wie fühlt sich dein Körper an?
Wie nimmst du dich in deiner Umgebung wahr?
Innere Anteile hören: z.B. den „ängstlichen“ und den „mutigen“ Teil gleichermaßen anerkennen.
Beide Anteile spüren und wahrnehmen. Denn keiner von beiden will dir etwas Böses tun. Sie wollen dich schützen und dir zeigen, was du brauchst. Stelle dir beide Anteile vielleicht als entgegengesetzte Kräfte vor (ähnlich wie beim Tauziehen). Du bist zwischen beiden Kräften in Bewegung und kannst dich von einer Seite zur anderen bewegen. Schaue dir beide Seiten liebevoll an.
Was wollen sie dir zeigen?
Wovor wollen sie dich schützen?
Was wünschen sich beide für dich?
Selbstmitgefühl üben: Nicht „lösen“, sondern verstehen wollen. Das Problem „lösen“ bedeutet häufig, dass wie es los werden wollen. Du kannst es nicht los werden, sondern nur mit Mit-gefühl fühlen. Sei liebevoll mit dir und mit den scheinbar entgegengesetzten Kräften in dir. Sie zeigen dir, wo noch etwas geheilt werden kann.
Was darf noch geheilt werden?
Was fühlst du, wenn du liebevoll draufschaust?
Was brauchst du gerade?
Klarheit durch kleine Schritte: Eine Sache nach der anderen betrachten. Du musst nicht alles auf einmal machen. Und du musst auch nicht alles auf einmal heilen. Gib dir Zeit. Es reicht vollkommen, wenn du erstmal nur den nächsten Schritt gehst. Gehe einen Schritt nach dem anderen.
Was ist jetzt zu tun?
Kannst du dir für den nächsten Schritt Unterstützung holen?
Akzeptanz: Zerrissenheit darf da sein – sie zeigt, dass du wächst. Du darfst dich zerrissen fühlen. Das gehört zum Leben dazu und ist völlig normal. Zerrissenheit gibt dir die Möglichkeit, Altes zu überdenken und neue Entscheidungen zu treffen.
Welche Entscheidung steht jetzt an?
Was möchtest du behalten und was darf gehen?
Zerrissenheit ist ein Übergang, kein Endzustand. Frieden entsteht, wenn beide inneren Stimmen Raum bekommen. Sei liebevoll mit dir und deinen inneren Stimmen. Auch, wenn du sie nicht verstehst oder sie gegensätzlich scheinen. Sie sind entstanden, als du Schutz brauchtest und von außen kein Schutz da war. Sie brauchen nicht deine Verurteilung, sondern dein Verständnis.
Was würde geschehen, wenn du heute aufhörst, dich zwischen zwei Seiten zu entscheiden – und beiden einfach zuhörst?
Balance ist kein Ziel, sondern ein Tanz zwischen Gegensätzen.
Hole dir meinen Adventskalender für liebevollen Selftalk.